Metodo

International Studies in Phenomenology and Philosophy

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162846

Das Manuskript Gemeingeist I

Emanuele Caminada(Husserl-Archives, KU Leuven)

pp. 179-216

Abstract

Husserls Manuskript Gemeingeist I zeigt begriffliche Verwandtschaften mit Diltheys deskriptiver Psychologie. Dilthey wendet Husserls Begriff der Apperzeption aus den Logischen Untersuchungen an, um die soziale und historische Wirklichkeit aus der menschlichen Erfahrung heraus zu verstehen. Das personale, kulturelle und intellektuelle Leben superveniert ihm zufolge nicht über fixierten, psychischen Vermögen, sondern besteht vielmehr in ständiger Wechselwirkung mit ihnen. Indem Husserl sich mit Diltheys Analyse auseinandersetzt, konzentriert er sich auf die Kluft zwischen subjektiver Genesis und objektiver Geltung, um den Anspruch des Historismus kritisch zu hinterfragen. Diese Auseinandersetzung wird ihn zur Entwicklung der genetischen Phänomenologie führen. Dementsprechend wird die Korrelation zwischen konstituierendem Subjekt und konstituierter Objektivität nicht nur in ihrer Struktur, sondern auch im Prozess ihres Entstehens analysiert.Im Ausgang von Diltheys Begriffen des seelischen Untergrunds und des Wirkungszusammenhangs wertet Husserl die Wechselwirkung zwischen Aktivität und Passivität neu auf: Mit dem Begriff der "inneren Teleologie" skizziert er das Herabsinken der Aktivität in Passivität, woraus eine Art von "sekundärer Sinnlichkeit" entspringt, die neue Erfahrungen in Affekten, Trieben und Neigungen präfiguriert. Ferner identifiziert er die Assoziation als dasjenige Prinzip der passiven Genesis, durch das Intentionalität künftige Affektionen vorprägt.Mit diesem offenen Konzept von Teleologie deutet Husserl die Begriffe Vernunft und Sinnlichkeit nicht als Vermögen, sondern als intentionale Leistungen. Jenseits der Dichotomie von psychischer Kausalität und intellektueller Aktivität wird Passivität sowohl als "Medium der Geschichte" des Subjekts als auch als die "Naturseite" des Ich verstanden. Im Hinblick auf Diltheys sozialtheoretische Fragestellung nach der Verflechtung von Einzelseele und Gemeingeist gewinnt damit Husserls Analyse der Wechselwirkung von Vernunft und Rezeptivität neue systematische Relevanz.Husserl's manuscript Gemeingeist I shows conceptual affinities with Dilthey's descriptive psychology. Dilthey applies Husserl's account of apperception from the Logical Investigation to understand the social and historical reality from within human experience. According to Dilthey, personal, cultural and intellectual life are not understood as superimposed upon fixed psychic faculties but rather mutually interact with each other. Facing Dilthey's analysis, Husserl focuses on the gap between subjective genesis and objective validity in order to reassess the ambition of historicism. This confrontation will lead him to the development of genetic phenomenology. Accordingly, the correlation between the constituting subject and the constituted objectivity is analyzed not only in its structure but also in the process of becoming.Expounding on Dilthey's concepts of psychic underground (seelischer Untergrund) and of effective nexus (Wirkungszusammenhang), Husserl reconsiders the interplay of activity and passivity: with the concept of "inner teleology' he outlines the sedimentation of activity into passivity, out of which a kind of "secondary sensibility' arises. This prefigures new experiences in affects, impulses and tendencies. Furthermore, he identifies association as the principle of passive genesis through which intentionality primes future affections.With this open concept of teleology, Husserl reassesses the concepts of rationality and sensibility not as faculties but as intentional performances. Beyond the dichotomy of psychic causality and intellectual activity, passivity is considered both as the "medium of the history' of the subject and as the "nature-side' of the ego. Therewith, his analysis of the interplay of reason and receptivity, contextualized within Dilthey's social-theoretical framework of the intertwining of individual psyche and Common Mind, gains new systematic relevance.

Publication details

Published in:

Caminada Emanuele (2019) Vom Gemeingeist zum Habitus Husserls - Ideen II: Sozialphilosophische Implikationen der Phänomenologie. Dordrecht, Springer.

Pages: 179-216

DOI: 10.1007/978-3-319-97985-4_8

Full citation:

Caminada Emanuele (2019) Das Manuskript Gemeingeist I, In: Vom Gemeingeist zum Habitus Husserls - Ideen II, Dordrecht, Springer, 179–216.