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Nietzsche und Borges
pp. 137-163
Abstract
Jorge Luis Borges beschreibt in seiner Erzählung »Die Bibliothek von Babel« ein Universum aus Büchern und dessen Bewohner. Diese verstehen die Welt, in der sie leben, zwar nicht, bemühen sich aber unablässig darum, sie zu durchschauen. Unermüdlich und mit einem Bienenfleiß, auf den die wabenartige Struktur ihrer Behausungen ironisch anspielt, formulieren sie Hypothesen über die Beschaffenheit ihres Universums. Ihre metaphysische Phantasie erscheint dabei als Kompensation ihrer Ahnungs- und Hilflosigkeit: Da die Babylonier den Dingen nicht auf den Grund zu gehen wissen, erdenken sie hypothetische Gründe; da sie die konstitutiven Gesetze des Universums nicht kennen, beschreiben sie es mittels erdachter Gesetzlichkeiten. So wird in der Erzählung ein ganzer Katalog von »Metaphysiken« aufgeblättert, die miteinander um den Status eines Welt-Erklärungsmodells konkurrieren. Die philosophisch-metaphysischen Systeme der Babylonier erinnern dabei an Weltmodelle der abendländischen Philosophie und Theologie, an Theorien über den Grund der Welt, die Ordnung der Dinge, die Gesetze des Seins und den höchsten Schöpfer und Weltenlenker, an Theorien über den Sinn der Welt und der Existenz des Menschen. Keine der Lehren von Babel bestätigt sich, keine läßt eine Bestätigung auch nur zu. Es bleibt bei Hypothesenbildungen ohne die Chance einer Verifikation.1
Publication details
Published in:
Schmidt-Grépály Rüdiger, Dietzsch Steffen (2001) Nietzsche im Exil: Übergänge in gegenwärtiges Denken. Weimar, Böhlaus Nachfolger.
Pages: 137-163
DOI: 10.1007/978-3-476-02785-6_12
Full citation:
Schmitz-Emans Monika (2001) Nietzsche und Borges, In: Nietzsche im Exil, Weimar, Böhlaus Nachfolger, 137–163.