Metodo

International Studies in Phenomenology and Philosophy

Book | Chapter

215884

Lernen und Erzählen interdisziplinär

Verhältnisse, Grenzen und offene Fragen

Olaf HartungIvo SteiningerThorsten Fuchs

pp. 11-23

Abstract

Betrachtet man das Verhältnis zwischen Lernen und Erzählen etwas genauer, so drängt sich bald der Eindruck auf, dass – je nach Lern- und Erzählbegriff – das eine ohne das andere nicht geht. Um zu lernen, müssen wir erzählen, und um zu erzählen, müssen wir lernen. Oder anders gesagt: Lernen setzt Erfahrungen voraus. Diese ordnen und gewichten wir im Erzählen, und durch Erzählungen machen wir uns und anderen das Erfahrene erst zugänglich. Erzählungen bestimmen uns mehr als wir bisweilen wahrhaben wollen. Sie bilden uns, konstituieren Sinn, stiften Identität und – was das Schönste ist – wir können uns mit ihnen prächtig unterhalten. Wenn wir unsere eigene (Lebens-)Geschichte erzählen, erleben wir uns als jemanden, der wichtig ist. Erzählen kann Angst vertreiben und manchmal sogar Leben retten, wie einst der Tochter des persischen Wesirs Scheherazade mit ihren tausendundeins Geschichten. Geschichten machen und gehen uns an. Nicht dem Einzelfaktum als solches messen wir Bedeutung bei, sondern das Faktum erhält als Teil einer Geschichte Bedeutung. Bloße Informationen können wir hingegen nicht einmal anständig im Gedächtnis behalten. Erzählungen schaffen Kontur, Prägnanz und Resonanz (vgl. Boothe 2009: 101). Und was sollten wir auch anderes mit unseren Erfahrungen anstellen, als daraus Geschichten zu bilden? Wie könnten wir ein Leben lang lernen, wenn wir keine Vorstellung vom Verlauf unseres Lebens hätten? Und wie könnten wir uns als Teil der Geschichte begreifen, wenn wir uns unsere Geschichte nicht erzählten? Erzählen ist eine kulturelle Universalie (Roland Barthes), vielleicht sogar – wie das Lernen – eine anthropologische Notwendigkeit. Der Mensch ist ein 'story-telling animal" (MacIntyre 1984 [1981]: 201; Swift 1984 [1983]: 53, zit. n. Nünning/Nünning 2002: 1) und Erzählen ein für seine Erfahrungsbildung unverzichtbares anthropologisches "Muster der Formgebung" (Neumann 2005: 160).

Publication details

Published in:

Hartung Olaf, Steininger Ivo, Fuchs Thorsten (2011) Lernen und Erzählen interdisziplinär. Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften.

Pages: 11-23

DOI: 10.1007/978-3-531-93478-5_1

Full citation:

Hartung Olaf, Steininger Ivo, Fuchs Thorsten (2011) „Lernen und Erzählen interdisziplinär: Verhältnisse, Grenzen und offene Fragen“, In: O. Hartung, I. Steininger & T. Fuchs (Hrsg.), Lernen und Erzählen interdisziplinär, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften, 11–23.