Zur Hundertjahrfeier eines Werkes ist es Usus, seine Aktualität zu thematisieren. Die Soziologie scheint sich jedoch dafür schlecht zu eignen. Denn als sie 1908 veröffentlicht wurde, war sie wenn nicht unzeitgemäß, dann doch so gut wie inaktuell. Zunächst nahm sie keine herausragende Position ein. Ohne großes Echo in Deutschland, in Frankreich verunglimpft, sind ihr nur wenige Rezensionen gewidmet. Und auch Simmel gab ihr kaum Publizität: "unvollkommen, tastend, irrend […]. Keiner kennt besser die Schwächen u. Lücken dieses Buches als ich selber".¹ Inaktuell zweitens, weil die Soziologie schon 1908 der Vergangenheit angehörte. Selbst wenn Simmel bis zum Ende die Textabfassung ausfeilte, hatte er ihren Inhalt seit langem festgelegt. Auf das etwas überarbeitete "Problem der Soziologie" folgten neun Abschnitte von Fallstudien, die größtenteils schon veröffentlicht wurden. Da Simmel "in der Soziologie nichts prinzipiell Neues mehr vorzubringen" hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als das Kapitel seiner ‚,soziologische[n] Existenz" nach einer mühsamen Arbeit von fünfzehn Jahren still und leise abzuschließen.² Schließlich war die Soziologie inaktuell, weil Simmel davon nicht weit entfernt war, sie als einen Unfall, ein Nicht-Geschehnis zu betrachten. Dass das Ende des ersten Kapitels destruktiv klingt, bietet einen ersten Hinweis dafür: Und wenn die Soziologie nicht soziologisch wäre?³ Weiterhin bekannte Simmel ganz ausdrücklich, dass wenn andere das Problem, das er der Soziologie stellte, "aufgenommen hätten, wenn andre die Ausführung übernähmen, nachdem [er] den Grundriß gezeichnet" hatte, wäre er "nicht verpflichtet" gewesen, "im Lauf der Zeit eine große Soziologie zu schreiben".⁴ Also warum? Warum ist dieses Buch, das unter anderen Umständen vielleicht nicht geschrieben worden wäre, trotzdem entstanden? Und nach welchen Kriterien kann man die damalige Inaktualität dieses seitdem epochemachenden Werkes ermessen?