Metodo

International Studies in Phenomenology and Philosophy

Journal | Volume | Article

138273

A. Dragomir, The world we live in

Corinna Lagemann

pp. 64

0Bei dem Band The World We Live In, herausgegeben von Gabriel Liiceanu und Catalin Partenie, handelt es sich um eine posthum erschienene Sammlung von Aufsätzen, Vorlesungsmitschriften und Textrekonstruktionen des rumänischen Phänomenologen Alexandru Dragomir (1916 – 2002), dem Zeit seines Lebens aufgrund widriger Umstände die verdiente Aufmerksamkeit verwehrt blieb und der bis zu seinem Tod nicht einen einzigen Text veröffentlichte.

0Vor diesem Hintergrund besticht der vorliegende Band bereits durch seine Methode und seinen Aufbau: einem recht ausführlichen biographischen Teil, der etwa ein Drittel des schmalen Buches ausmacht, folgt die in drei Sektionen gegliederte Sammlung von Aufsätzen, wobei die Aufsätze in sehr unterschiedlicher Form vorliegen. Jedem Text geht eine kurze Erläuterung seiner Herkunft und Bearbeitungsweise voraus, und so finden sich Rekonstruktionen aus Vorlesungsmitschriften, Transkripte von Tonbandaufnahmen und allerlei fragmentarisches Material, das nach bestem Wissen und Gewissen und sehr akribisch und präzise angefertigt wurde.

0Die Herausgeber äußern sich zur Methode und zum Status des Werks wie folgt:

0 „The present volume brings together all that has been preserved of these lectures and that could serve as raw material for subsequent working up. By working up, we mean that neither the existing notes, nor the audio recordings have been reproduced exactly“ (ix)

0Vielmehr ist man um eine verständliche Darstellung bemüht, als um die ganz exakte Rekonstruktion des vorliegenden Materials.

0Der ausführliche biographische Teil gibt Aufschluss darüber, wie es zu Dragomirs hohem Stellenwert in der phänomenologischen Theoriebildung und seiner regen Unterrichtstätigkeit gänzlich ohne Publikationen kam, und weshalb er trotzdem so wenig wahrgenommen wurde und bis heute wird.

0Dragomir wird als brillanter Schüler Heideggers dargestellt, als Denker nach Heideggers Vorbild, der das Denken weit höher bewertet als das Schreiben, dem aber der zweite Weltkrieg und die enge Verbundenheit mit Martin Heidegger zum Verhängnis wird. Der zweite Weltkrieg wird hier als zentrales Ereignis beschrieben, welches Dragomirs Karriere beendete, bevor sie wirklich begonnen hatte.

0So äußern sich denn auch die Herausgeber:

0„As I write today for the first time about Alexandru Dragomir, I am inclined to explain him as the product of a microclimate of history, a cultural ab-erration, a 'wandering', a derivation from the mould in which culture takes shape in normal ages and worlds.“ (S.12)

0Besondere Beachtung finden die Notizbücher Dragomirs, die 2002 gefunden wurden, aus denen ein Schwerpunkt seines Denkens hervorgeht: geprägt durch Heidegger beschäftigte sich Dragomir intensiv mit der Frage nach der Zeit; diesem Nachlass widmet sich bereits ein Band mit dem Titel Chronos. Bei aller Nähe zu Heidegger darf aber Dragomirs Kritik an seinem Lehrer nicht verschwiegen werden: Heidegger habe die Frage nach der Zeit nicht beantwortet; so fügt er der Zeit noch weitere Strukturmomente hinzu, die bei Heidegger unterbelichtet bleiben und die die Rede von der Zeit weiter ausdifferenzieren. Nicht nur präzisiert er den Begriff des 'Jetzt', er beschreibt auch die Struktur des Zukünftigen präziser als Heidegger es getan hat, indem er den Entwurfscharakter des Daseins als ein Zusammenspiel von tatsächlichen Möglichkeiten, Plänen sowie Träumen und Phantasien beschreibt, wie im Folgenden weiter ausgeführt wird. Die Abhandlung über die Zeit verdient es also sicherlich ebenfalls, neu entdeckt und rezipiert zu werden.

0Der Aufsatzteil ist in zwei große Abschnitte gegliedert. Der erste widmet sich analytischen Fragen, immer mit großer Nähe zur griechischen Antike. So findet sich eine Abhandlung über Frage und Antwort, den sokratischen Dialog und die Frage, was eigentlich Wissen bedeutet, welches Wissen möglich ist, etc. In seiner Nähe zu Sokrates - „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ - manifestiert sich erneut Dragomirs Auffassung, dass das reine Denken dem Schreiben überlegen sei. Dieser Standpunkt zieht sich durch alle Beiträge.

0Der zweite Text, die Transkription eines Vortrags vom September 1987, beschäftigt sich mit Fragen der Selbsttäuschung und greift die wesentlichen Schwerpunkte Dragomirs' Schaffen auf: es geht um Zeit; um die Selbsttäuschung aufgrund von Träumen, Erinnerungen, Vorstellungen von Zukünftigem, um Selbstbilder und darum, wie diese korrumpiert werden können. Die Grundlage seiner Überlegungen bildet Heideggers Begriff vom Seinkönnen, die Idee, dass wir uns selbst auf Basis von Projektionen, Wünschen, Vorstellungen, aber auch von bereits Erlebtem selbst entwerfen. Dragomirs entscheidende Pointe besteht in der Idee eines Spielraums, „a space that is not yet occupied by anything, a niche of the possible in which we can install ourselves and freely settle into one direction or another of our lives“ (S.45). In diesem Spielraum liegt die Möglichkeit, sich anders zu entscheiden, anders 'abzubiegen', als die Projektionen und Vorstellungen es vorgeben und gleichzeitig das große Potential der Selbsttäuschung. Hier liegt nämlich der Punkt, an dem Selbstbild und tatsächliches Selbst sich voneinander trennen. Indem dieser Text die wesentlichen Punkte aus Dragomirs Konzeption verbindet – das Wissen um das eigene Nicht-Wissen sowie großartige Einsichten ins Wesen der Zeit und in die Lücken in Heideggers Zeitanalyse – kann er als einer der zentralen Texte des Bandes angesehen werden.

0Die darauf folgenden Beiträge behandeln Raum und Zeit in ihren unterschiedlichen Facetten. Nach den phänomenologischen Betrachtungen von Raum und Zeit im menschlichen Selbstverhältnis geht es um die Konstitution von Lebenswelt („Utter Metaphysical Banalities“), um geographische und politische Räume („Nations“) sowie um die Transzendenz und Selbstüberschätzung des Menschen, der das Maß für sich selbst verliert. Der Text behandelt den Menschen in seiner Sozialität sowie sein Verhältnis zum Göttlichen und zur Natur und die Möglichkeit, dass diese Bezüge sich als nicht haltbar erweisen und sich die Suche nach dem Sinn als aussichtslos erweist. Auch hier zeigt sich die große Nähe zu Heidegger.

0Insgesamt zeigt dieser erste Abschnitt eine Bewegung vom Kleinen ins Große, vom individuellen Menschen in seinem Selbstverhältnis hin zum Weltverhältnis, zur Umgebung und darüber hinaus, immer mit deutlichem Bezug zu Heidegger und zur griechischen Antike, sowie zur Verbindung zwischen Sokrates und der phänomenologischen Theoriebildung des 20. Jahrhunderts. In dieser Verknüpfung und dem sinnvollen Aufbau liegt der besondere Verdienst nicht nur des unterrepräsentierten Denkers Dragomir, sondern auch der sorgfältigen Herausgeberschaft Liiceanus und Catalins.

0Der zweite Teil des Aufsatzteils basiert auf einer Vorlesungsreihe zu Platons Apologie und beschäftigt sich dementsprechend schwerpunktmäßig mit der Person Sokrates und mit seiner Philosophie und seinen Methoden. Den Aufsätzen ist ein ausführlicher Teil zu den Quellen der Methode ihrer Aufbereitung vorangestellt.

0Die Aufsätze selbst behandeln neben den historischen Betrachtungen die großen Fragen der Philosophie; die Nähe Dragomirs zu Heidegger scheint immer wieder durch. Diese wird beispielsweise dort offenkundig, wo er die Philosophie mit der Stadt kontrastiert, wobei die Stadt als Ort der öffentlichen Meinung und damit in direkter Nähe zu Heideggers Man verstanden wird. Außerdem werden die Themen des guten Lebens, des Wissens sowie einige logische Betrachtungen und die sokratische Methode erörtert.

0Der letzte Abschnitt dieses zweiten Teils ist der titelgebende Text „The World We Live In“, der auf einer Vortragsreihe gründet, die Dragomir im Zeitraum von September 1986 bis Mai 1988 gab. Inhaltlicher Schwerpunkt dieses Textes ist eine Technik- und Wissenschaftskritik, die stark an Heidegger anschließt. Ausgangspunkt der Überlegungen bildet ein Nietzsche-Zitat, in dem es um die Entfremdung des Menschen von seinen Grundinstinkten geht, welche die Lebenswelt und die Gesellschaft seiner Zeit charakterisiere. Ein Problem der Menschen sei, dass sie sich im Zuge der fortschreitenden Abstraktion zu sehr von sich selbst und ihren Bedürfnissen entfernen und sich die Welt dementsprechend einrichten. Ausgehend von dieser Bestandsaufnahme untersucht Dragomir die Begriffe des Denkens, Wissens und der Wissenschaft nach Aristoteles; auch hier wird wieder ein starker Schwerpunkt auf das Denken im Unterschied zu Wissen und Technologie gelegt. Nur der denkende Mensch könne frei und autonom sein, so betont Dragomir, und begründet damit seine Kritik an der gegenwärtigen hoch technisierten Kultur, die den Menschen von seinem Menschsein und seinen Möglichkeiten entfremde.

0Insgesamt gelingt mit The World We Live In ein sehr konziser und informativer Einblick in das Schaffen eines zu Unrecht vernachlässigten Philosophen der jüngeren Geschichte. Neben wertvollen historischen Einsichten vermittelt der Band spannende philosophische Gedankengänge, die gleichzeitig zentrale phänomenologische Begriffe des 20. Jahrhunderts weiterdenken, die Verbindung zu anderen Positionen vermitteln und ein interessantes Licht insbesondere auf Martin Heideggers Schaffen werfen.

0Den Herausgebern gelingt ein sehr empfehlenswertes Buch, das sowohl für den interessierten Laien geeignet ist als auch neue Einsichten für Kenner der aktuellen Forschungslage bereithält.

 

Publication details

Published in:

Apostolescu Iulian, Steinbock Anthony (2017) Phenomenological Reviews 3.

Pages: 64

DOI: 10.19079/pr.2017.11.lag

Full citation:

Lagemann Corinna (2017) „A. Dragomir, The world we live in“. Phenomenological Reviews 3, 64.