Metodo

International Studies in Phenomenology and Philosophy

Journal | Volume | Article

136354

0Die wichtigste Frage, die sich die momentane Heidegger-Forschung stellen kann, ist nicht, ob Heidegger Antisemit war. Die wichtigste Frage setzt dies als Annahme voraus. Stattdessen geht es darum, inwiefern Heideggers philosophisches Werk von diesen Überzeugungen beeinflusst wurde. Die Frage ist zentral, da die Angst besteht, etwas von Heidegger und seinen Schülern und Schülerinnen gelernt zu haben, das unvereinbar mit einer kategorischen Ablehnung von Rassismus und Antisemitismus ist.

0Peter Trawny ist Experte für diese Frage. Er ist Mitherausgeber der Heidegger Gesamtausgabe und Verfasser mehrerer Bücher, die sich unter anderem mit Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus beschäftigen. Dabei nimmt er eine Mittelposition ein. Er verteufelt nicht, aber er verteidigt auch nicht.

02003 veröffentlichte Trawny ein Buch mit dem Titel Martin Heidegger – Eine Einführung. Das war 10 Jahre bevor er die Veröffentlichung der sogenannten Schwarzen Hefte Heideggers bekannt gab, jene Denktagebücher, die lange Zeit als verschollen galten und die posthum die Heidegger Interpretation in den öffentlichen Diskurs katapultierten. Für viele Kommentatoren wird in diesen Schriften Heideggers Antisemitismus expliziter denn je. Auch Trawny fühlte sich veranlasst, seine ursprüngliche Einführung zu überarbeiten und sie in einer kritischeren Betrachtungsweise zu vervollständigen.

0Das Ziel von Martin Heidegger – Eine kritische Einführung ist es, einen kurzen Überblick über Heideggers Themen zu geben. Kritisch wird dieser Überblick dadurch, dass angestoßen wird, inwiefern Heideggers Antisemitismus und Nationalismus auf die Bearbeitung dieser Themen gewirkt haben könnten.

0Es ist wichtig zu betonen, dass mehr nicht versucht wird. Es findet keine tiefgehende Einführung, Interpretation oder Erklärung zu den einzelnen Begriffen oder Positionen Heideggers statt. So mancher Leser wird davon enttäuscht sein, denn gerade das erwartet man von einem Buch, dessen Titel eine kritische Einführung verspricht, so zweideutig diese Formulierung auch ist. Doch dazu gibt es keinerlei Verlangen bei Trawny. Jede Erläuterung ist zu skizzenhaft, um dem Anfänger das Gefühl zu vermitteln, immerhin das Rohgebäude von Heideggers Denkens verstanden zu haben. Passend dazu ist die Auswahl der Themen. Viele Themen, die normalerweise im Zentrum stehen, wie die Analyse des Seinsbegriffs, erhalten nicht mehr Aufmerksamkeit als Heideggers frühe theologische Anfänge.

0Paradigmatisch für diese Kürze ist Trawnys Behandlung der, für Heideggers Denken wichtigen, ontologischen Differenz. Bereits im ersten Paragraph dieses Kapitels nimmt er, scheinbar kapitulierend zur Kenntnis, dass keine Einführung im Stande sei, diese schwierige Unterscheidung treffend auszuführen. Man fragt sich, weshalb es nicht wenigstens versucht wird. Platz ist genug bei gerade einmal 168 Seiten für einen Denker, dessen veröffentlichte Gesamtausgabe momentan über 80 Werke umfasst.

0Die Verantwortung für ein bleibendes Unverständnis der skizzierten Positionen ist, laut Trawny, beim Leser zu suchen. Der Autor gibt einen Hinweis, darauf wie er sich sein Publikum vorstellt. Er wünscht sich „Studierende die etwas mitarbeiten wollen, aber auch Liebhaber des Philosophen“ (15). Aber was genau heißt hier mitarbeiten? Heißt es selber nachzuschlagen was ein Begriff bedeutet? Wenn man es immer noch nicht versteht, eine zweite Einführung zu konsultieren? Genau das heißt es. Positiv ausgedrückt: Anstatt den Leser mit ausschweifenden Interpretationen zu überwältigen, strahlt der Text Vorsicht aus. Vorsicht nicht zu sehr von dem eigentlichen Thema abzulenken. Vorsicht dieses Thema nicht zu schnell interpretatorisch zu bestimmen.

0Diese Vorsicht ist trügerisch. Für eine Einführung in Heideggers Denken in Bezug zum Antisemitismus ist Trawny nicht vorsichtig genug. Ironischerweise ist sie dies gerade der Fall, weil sie zu oberflächlich und zu kurz bleibt. Kürze von einer Autorität wie Trawny kann missverstanden werden. Was nicht kontrovers ist kann, normalerweise, schnell als zum common ground gehörend übergangen werden und muss nicht näher beachtet werden – so bestimmt es die Pragmatik.

0Zu kurz geraten ist vor allem die Frage, wie sich Heideggers antisemitischen Ansichten auf seine Philosophie auswirken. Diese wird scheinbar schon von Anfang an beantwortet oder immerhin in eine bestimmte Richtung gelenkt. Trawny beginnt seine Ausführen damit, darauf hinzuweisen, dass man Heideggers eigenem Aufruf folgen sollte und den Fokus weniger auf sein Werk sondern auf seinen „Weg“ legen sollte. Für Trawny und Heidegger ist Denken somit etwas Performatives, etwas das vom Leben nicht getrennt werden kann. Leben und Werk sind somit eng verflochten. Dass Heidegger so dachte, ist nicht kontrovers. Kontrovers ist jedoch was dies für die Heidegger Interpretation bedeutet. Genau diese Frage bleibt bislang ungeklärt.

0Es ist sicherlich wichtig, diesen Grundgedanken, „Wege statt Werke“, in einer kritischen Einführung aufzugreifen. Doch die Leser, vor allem die Anfänger, müssen auch verstanden werden. Sie folgen unweigerlich der oben genannten pragmatischen Regel und können nicht einschätzen, wann und wo sie nachhaken müssen, wenn über Schlüsselprobleme zu schnell hinweggegangen wird. Dass Leben und Werk verstrickt sind, kann somit so verstanden werden, dass es klar sei, dass Heideggers Philosophie von seinem antisemitischen Denken beeinflusst sein muss. Gerade diese implizite Schlussfolgerung ist problematisch. Es bedarf eine gewisse Bekanntheit mit der Debatte, um dies einzusehen. Genau das sollte eine kritische Einführung vermitteln. Trawnys Einführung wird diesem Anspruch nicht gerecht.

0Wie stark diese unangebrachte Kürze auf den Leser wirken kann, möchte ich im Folgenden illustrieren. Schon auf Seite 19 zitiert Trawny Heideggers Satz: „Unser Leben ist unsere Welt“. Dabei gebe es „'irregeleitetes Leben' wie 'echtes Leben'“ (20). Auf derselben Seite spricht Trawny selbst: „[...] wenn der Philosoph nur dann über sein Thema sprechen kann, wenn er dieses Thema 'lebt', dann muss die Frage nach der 'Wissenschaftlichkeit' von Philosophie überhaupt gestellt werden.“ Laut Trawny sei nach Heideggers eigener Philosophie eine von diesen „Verstrickungen freie Erkenntnis“ nicht möglich (21).

0Das klingt plausibel. Doch genau ein solcher Satz am Anfang eines Texts, der diese Frage erst noch beantworten sollte, oder besser, offen lassen sollte, ist unangemessen. Geäußert als scheinbare Banalität von einer Autorität wie Trawny, kommt der mitarbeitende Anfänger kaum daran vorbei, ihn nicht als gegeben hinzunehmen und ihn automatisch mit Heideggers Antisemitismus in Verbindung zu bringen. Das Projekt des Buchs ist somit schon zu Beginn gefährdet, die zentrale Frage schon auf Seite 19 beantwortet.

0Zumindest für Heidegger scheint also klar zu sein, dass man Heidegger nicht von seinen Handlungen und seinen, vor allem in den Schwarzen Heften ausgedrückten Überzeugungen; trennen kann. Doch was genau bedeutet das? Wo sind die Schnittstellen besonders offensichtlich? Wenn sie so offensichtlich sind, wie Trawny im ersten Kapitel implizit ankündigt, erwartet der Leser klare offensichtliche Hinweise in Heideggers Werk. Trawny macht dazu ein paar Vorschläge. Zum Beispiel spekuliert er, ob Heideggers frühe Religionsphänomenologie bereits antisemitische Einflüsse enthalten (31). Er legt nahe, dass Heidegger aus antisemitischen Gründen verlangt, Hebräisch und das Judentum aus dem Christentum und seinen Lehren zu verbannen. Das ist wieder skizzenhaft. Zwar wird durch die Knappheit zum Lesen der Primärtexte und weiterer Sekundärliteratur gezwungen, doch da dieses niemals explizit gefordert wird, kann man nicht vermeiden, dass zumindest manche Leser Trawny einfach beim Wort nehmen werden. Das wäre schade und sicher nicht in Trawnys Interesse.

0Auch Heideggers Kritik des „Man“ und seiner Beschreibung der anonymen Massenkultur im zwanzigsten Jahrhundert wird mit einem Brief in Verbindung gebracht, in dem Heidegger von „der Verjudung unserer Kultur und Universitäten“ spricht (52). Trawny schlägt vor, dass das „Man“ für Heidegger „geradezu ein Beschreibungsregister der Verjudung“ sei (52). Der ungeübte Leser weiß wieder nicht, was er davon halten soll. Ist sein Antisemitismus also Grund für Heideggers Kritik an der Massenkultur oder erfüllt „das Judentum“ lediglich eine Rolle, die bereits für sie angelegt war? Nur wer aus anderen Quellen weiß, dass Trawnys Position besonders hier kontrovers ist, kann vernünftig „mitarbeiten“.

0Es wäre jedoch ein Fehler Trawnys Buch auf dieses Thema zu reduzieren. Sein Überblick ist grob aber weitreichend genug, dass die Leser schnell zum Mitarbeiten, das heißt, zum Lesen des eigentlichen Textes, kommen müssen. Denn um diesen geht es Trawny. Das Ziel des Buchs ist somit als Wegweiser zu fungieren, trotz der anfänglichen Tendenzen. Dennoch wird Heideggers Verhältnis zum Antisemitismus und Nationalismus zu jeder Zeit im Text aufgegriffen. Es bleibt das zentrale Thema des Buchs.

0Besonders klar wird dies in Bezug auf Heideggers Hölderlin Interpretation. Nur kurz geht es hier um Heideggers sehr wichtige und interessante Sprachphilosophie. Umso schneller wird zitiert. In diesem Fall, dass Hölderlin den „Deutschen ihre Sprache und Geschichte liefert“. Was bedeutet das nun wieder? Der Leser kann nicht anders als hier eine implizite Parallele zu ziehen, die im gesamten Buch auf- und abgegriffen wird: Hat sich Heideggers Sprachphilosophie aus einem romantischen Nationalismus entwickelt, der untrennbar mit seinem Antisemitismus verbunden ist?

0Am stärksten wird der Zusammenhang im darauf folgenden Abschnitt gemacht, in dem Trawny einen Bezug zwischen Heideggers Philosophie und den, für den damaligen Antisemitismus wichtigen, Protokollen der Weisen von Zion herstellt. Trawny zeigt hier Parallelen zwischen diesem Text und Heideggers Antisemitismus auf, ohne zu behaupten, Heidegger habe diesen Text bewusst gelesen. Dass er dennoch von ihm beeinflusst war, lässt Trawny als Möglichkeit offen und beruft sich auf den bekannten Antisemitismusforscher Jeffrey Sammons. Dieser sieht den Ursprung des zeitgenössischen Antisemitismus in denselben Protokollen der Weisen von Zion. Wieder lässt Trawny aus, dass gerade dieser Zusammenhang in der heutigen Debatte höchst kontrovers ist. Aber gerade diese Information ist wichtig für jeden, der sich für eine Einführung interessiert.

0Im Großen und Ganzen bleibt Trawny jedoch bei seiner Mittelposition und schließt, dass sich Heideggers besonders problematischen Notizen in den Schwarzen Heften nicht unbedingt auf Heideggers Gesamtwerk übertragen lassen, das aber dennoch ein hermeneutischer Verdacht bestehen bleibt. Trawny empfiehlt den Lesern Heidegger aufmerksam, das heißt nicht ohne Heidegger, zu lesen. Wie dies zu verstehen ist, fasst er in dem mit nicht wenig Pathos verkündeten Paradox zusammen: „Das Denken über und auch mit Heidegger muss von seinem Denken frei bleiben. Es darf sich weder von der Kraft seiner Sprache verführen lassen, noch darf es sich seine Sprache und seine Begriffe aneignen“ (14). Das scheint auch für den Autor nicht immer leicht zu sein.

0Was Trawny überhaupt nicht erwähnt, ist, dass es sich bei seiner Einführung wirklich hauptsächlich um das Denken Heideggers in Verbindung zum Antisemitismus und dem Nationalsozialismus handelt. Andere problematische Stellen in seinem Denken, die ebenso durch die Schwarzen Hefte zum Vorschein gekommen sind, könnten nicht weniger Einfluss auf seine Philosophie gehabt haben. So werden zum Beispiel weder die häufig vergessenen, antidemokratischen Züge bei Heidegger erwähnt, noch sein Antiamerikanismus. Dies jedoch sollte in einer kritischen Einführung zumindest angesprochen werden.

0Im Rückblick lässt sich zusammenfassen, dass Peter Trawnys Kritische Einführung zu kurz und umrissartig ist, um dem Anfänger das eine oder andere Konzept in Heideggers Werk näher zu bringen, geschweige denn zu erklären. Für einen solchen Zweck wäre eine spezialisierte Einführung zu zum Beispiel Sein und Zeit angebrachter. Wer jedoch einen kurzen Text sucht, der einen Überblick über Heideggers Gesamtwerk bietet und wie dieses sich womöglich zum Antisemitismus verhält, kann Trawnys Text als solide Ressource nutzen, dessen Thesen jedoch kritisch zu betrachten sind.

Publication details

Published in:

Apostolescu Iulian, Steinbock Anthony (2016) Phenomenological Reviews 2.

Pages: 25

DOI: 10.19079/pr.2016.4.loh

Full citation:

Löhr Guido (2016) „P. Trawny, Martin Heidegger“. Phenomenological Reviews 2, 25.